Eine Kampagne für die Zusammenführung zwischen Griechenland und Deutschland getrennter Familien
Eine Mama und ein Papa mit drei kleinen Kindern in Griechenland – ihr 17-jähriger Sohn alleine in Deutschland
Diese Familie gehört nach Hannover!
Morteza B.* (37) aus Afghanistan floh aus seinem Land, nachdem das Leben seiner Familie bedroht wurde. Er kam mit seiner Frau und ihren vier Kindern Ende Februar 2016 nach Griehcenland, kurz vor der Umsetzung des EU-Türkei-“Deals”. Die Familie war einige Monate lang in einem griechischen Notaufnahmelager bei Athen untergebracht. Weil sie sich dort auch nicht sicher fühlten, versuchten sie ihre Flucht über den Balkan fortzusetzen.
Mehr als zehn Mal wurden sie von Beamten abgefangen und entgegen geltendem Recht nach Griechenland zurückgewiesen. Als sie schließlich serbischen Boden erreichten, wurden sie erneut festgenommen und willkürlich nach Bulgarien zurückgewiesen – obwohl sie noch nie zuvor in diesem Land waren.
Nach einer mehr wöchigen Odyssee wurden sie im Winter 2016 schließlich von Bulgarien nach Griechenland zurückgeschickt. Da sie kein Geld mehr hatten, sahen sie keine andere Möglichkeit, als ihren ältesten Sohn Massoud* (jetzt 17 Jahre alt) alleine nach Deutschland zu schicken. Sie dachten, dass wenigstens Massoud dann in Deutschland in Sicherheit sein würde. Zusammen mit seinem Vater war er derjenige der Familie, die in Afghanistan am meisten bedroht wurden.
Die Familie stellte dann einen Antrag auf Familienzusammenführung. Dieser wurde von den griechischen Behörden jedoch trotz wiederholter Versprechungen nie versandt. Stattdessen versuchte Deutschland den minderjährigen Sohn der Familie nach Griechenland abzuschieben, obwohl er schon dort Asyl beantragt hatte und bereits zwei Jahre in Deutschland lebte. Weil die griechischen Behörden seine Rücknahme verweigerten, durfte Massoud sein Asylverfahren in Deutschland fortsetzen. Er erhielt einen einjährigen nationalen humanitären Status (Abschiebungsverbot). Er ist nun legal in Deutschland und geht dort zur Schule. Aber er ist allein.
“Unser Sohn wäre in Afghanistan fast entführt worden. Maskierte Männer warteten vor seiner Schule auf ihn. Nach diesem Terror mussten wir unsere Kinder von der Schule nehmen, um sie in Sicherheit zu wissen. Wir sind nach Griechenland geflohen. Alle zusammen versuchten wir monatelang via Mazedonien und Serbien weiterzukommen. Wir fühlten uns schutzlos unter den Hunderten von uns unbekannten Afghanen um uns herum.
Auf unserem Weg wurden wir mehr als ein Dutzend Mal illegal zurückgewiesen. Wir wurden von Grenzbeamten, Soldaten und der Polizei geschlagen und geschubst; unsere Telefone wurden gestohlen. Wir wurden gezwungen, das eisige Wasser eines Flusses zu durchqueren, und wurden zwei Monate lang unter erbärmlichen Bedingungen in Bulgarien festgehalten, ohne dass wir je aus dem Gefängnis raus konnten and die frische Luft.
Zurück in Griechenland ging die Tortur weiter. Nachdem unser Sohn Deutschland erreicht hatte und in Sicherheit war, informierten wir die griechische Asylbehörde. Als wir ihnen mitteilten, dass wir einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen wollten, versicherten sie uns, dass sie diesen abschicken würden. Dann begann das Warten. Jedes Mal, wenn wir unsere Papiere erneuerten, sagten sie dasselbe. Von Monat zu Monat, sprengten sie die Grenzen unserer Geduld. Ich werde nie vergessen, als sie uns plötzlich mitteilten: “Nein! Wir werden Ihren Antrag auf Familienzusammenführung nicht abschicken. Ihr Asylverfahren wird in Griechenland stattfinden.” Ich war am Boden zerstört.
Meine Frau und ich versuchen immer noch zu bereifen, dass wir in einem Jahr, also genau fünf Jahre nach unserer Ankunft in Europa, unser Asylinterview in Griechenland haben werden. Dann sind wir schon 3 1/2 Jahre von unserem Sohn getrennt.
Wir leben immer noch in diesem Flüchtlingslager, einem Containerdorf in einem Industriegebiet. Meine Frau leidet seit Jahren an schweren psychischen Problemen, sie ist in Therapie und nimmt Medikamente. Ihre Situation hat sich nach der erlebten Gewalt an den Grenzen Europas verschlechtert. Aber seit unser ältestes Kind so weit von uns entfernt ist, ist ihre Gesundheit komplett zerstört.
Wir haben nur wenige Nachbarn, die schon so lange wie wir mit uns in diesem Lager leben – sie haben auf dem staubigen Boden kleine Gärten angelegt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, auch nur eine einzige Pflanze in diese Erde zu setzen. Wir können uns kein “Zuhause” bauen, wenn einer von uns fehlt.
Zuhause ist dort, wo deine Familie ist – zusammen!”
Auf der anderen Seite des Kontinents, hoch im Norden, zählt der 17-jährige Massoud* die Tage, bis er seine Familie wieder sieht.
“Ich vermisse meine Familie. Ich wünschte, sie kämen hierher, um mit mir in einem Haus zu leben. Als ich in Griechenland war, lebten wir in einem Zelt. Es gab keinen Sprachunterricht, keine Schule. Ich hatte große Angst, allein auszugehen. Als meine Eltern beschlossen, dass ich allein nach Deutschland ziehen musste, war ich erst 13 Jahre alt. Sie hatten grosse Angst, mich gehen zu lassen. Und ich hatte Angst, alleine zu reisen. Aber meine Angst vor einer neuen Bedrohung in Griechenland, war noch grösser.
Ich spreche jeden Tag mit meiner Familie am Telefon. Ich möchte ihnen Kraft geben. Das Gute an Deutschland ist, dass ich keine Angst habe, rauszugehen, und dass ich wieder zur Schule gehen kann. Ich möchte Koch werden. Als ich nach Deutschland kam, habe ich kochen gelernt. Ich musste mich selber versorgen. Meine Mutter weint oft, wenn wir telefonieren, aber sie ist froh, dass ich nun kochen kann, denn sie muss sich wenigstens keine Sorgen machen, dass ich hungrig bin. Sie weiß, dass ich meinen Magen jetzt selber mit leckerem Essen füllen kann.”
Alle Kinder haben das fundamentale Recht mit ihren Liebsten zusammen zu sein. Trotzdem ist es in Europa mittlerweile weitläufig akzeptiert, dass Familien Geflüchteter aufgrund der restriktiven Gesetzeslage und ihrer noch restriktiveren Auslegung durch die Mitgliedsstaaten getrennt werden und bleiben. „Das Wohl des Kindes […] [sollte] eine vorrangige Erwägung der Mitgliedsstaaten sein” – so steht es in der Dublin III Verordnung, die das primäre rechtliche Instrument ist, welches die Verteilung von Asylbewerber*innen innerhalb der EU regelt. Trotzdem werden tausende geflüchtete Kinder, die Europa erreichen, von ihren Eltern, Geschwistern oder anderen näheren Verwandten wie Tanten, Onkeln und Großeltern, die sich in anderen EU Staaten befinden, ferngehalten.
Im Rahmen des “langen Sommers der Migration” im Jahr 2015, haben tausende Menschen in Griechenland das erste Mal europäischen Boden betreten, bevor sie nach Nordeuropa weitergezogen sind. Viele Familienmitglieder sind später über die gleiche Route nachgekommen – mit dem Ziel, ihre Reise fortzusetzen, um in Deutschland in der Nähe ihrer Liebsten Schutz zu suchen.
Die letzten vier Jahren sind von der plötzlichen Rückkehr von einem kurzen Trend einer europäischen ‘Willkommens-Politik’ zu dem bekannten fatalen Ansatz der geschlossenen Grenzen geprägt. Diese Kehrtwende ist begleitet von einem Aufschwung rechter Regierungen in den EU-Mitgliedstaaten und setzte die grosse Mehrheit der nach 2016 Angekommenen Geflüchteten in Griechenland fest.
In einer Atmosphäre, die von repressiven, anti-migratorischen Politiken in ganz Europa bestimmt wird, kämpfen Graswurzelinitiativen und -Netzwerke auf dem ganzen Kontinent gegen Abschiebungen, illegale Push-Backs, Polizeigewalt, repressive Asylgesetze, verlorene Menschenleben an den Grenzen, die Kriminalisierung von Solidarität und den Anstieg rassistischer Angriffe. Obwohl tausende Familien auseinandergerissen wurden und weiterhin voneinander getrennt gehalten werden, herrscht eine gefährliche Stille über dieser Verletzung fundamentaler Menschenrechte.
In diesem Kontext möchten wir Geschichten von geflüchteten Familien teilen, die getrennt zwischen Griechenland und Deutschland leben müssen. Es ist nicht hinzunehmen, dass das Verpassen von Fristen, die Trennung einer Familie mit dem Wohl der Kinder als Ziel, das Getrenntwerden durch Grenzpolitiken, wachsende Zäune und intensivierte Frontexeinsätze und -kontrollen, valide Gründe sind, um die Trennung von Familien zu rechtfertigen. In den meisten Fällen können geflüchtete Familien die notwendigen Papiere, die ihre Verwandtschaft bestätigen würden, nicht vorweisen. Sie können keine übersetzten Pässe, Familienbücher und Geburtsurkunden vorzeigen – weil sie Krieg und Konflikten entflohen und aus und unter Umständen der Flucht, in welchen Menschen solche Dokumente eben nicht (mehr) besitzen, oder ihre Papiere verloren haben auf dem gefahrenvollen Pfad in die Sicherheit.
Wir haben uns entschieden, diese Kampagne für die Rechte aller Familien symbolisch am 15.03.2017 zu beginnen, dem Datum der Wiederaufnahme der Dublin-Rückführungen nach Griechenland, die der Empfehlung der Europäischen Kommission folgte, und auf der angeblichen Verbesserung der Bedingungen in Griechenland beruhte. Viele Länder des europäischen Nordens, insbesondere Deutschland, nahmen die Gelegenheit dankbar an, um zu versuchen Menschen zurück nach Griechenland zuschicken. Im Jahr 2017 hat Deutschland 1.887 Überstellungsgesuche an Griechenland gestellt (take-back requests). 2018 waren es 6.827 und im letzten Jahr 9.275 – und das trotz der anhaltenden systemischen Menschenrechtsverletzungen, die von zahlreichen Organisationen dokumentiert wurden und werden.
Schutzsuchende kämpfen an den Außengrenzen und in Griechenland ums Überleben
Heute setzt die rechts-konservative griechische Regierung des vergangenen Sommer gewählten Kyriakos Mitsotakis und seiner Partei, Nea Dimokratia, immer drastischere Methoden ein, um Geflüchtete ohne Rücksicht auf Verluste von den Grenzen fernzuhalten. Die führenden Politiker*innen des Landes bedienen sich nicht nur einer rassistischen anti-migratorischen Rhetorik, sondern propagieren zudem die lächerlichsten Maßnahmen, welche die Grenzen angeblich abriegeln könnten (z.B. schwimmende Zäune).
Die Ankündigung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, die Türkische Grenze nach Europa Ende Februar 2020 zu öffnen, führte zu einem rasanten Anstieg versuchter Grenzübertritte. Der griechischen Regierung schien es in der Folge logisch und gerechtfertigt, mit Gewalt gegen jene Personen vorzugehen, die versuchten, griechisches Territorium zu betreten. Geflüchtete an der Landesgrenze wurden mit Tränengas beschossen, verprügelt, ausgezogen bis auf die Unterwäsche, zurückgedrängt und sogar mit Gummigeschossen beschossen. Auf dem Meer wurden sie attackiert und beschossen, die Motoren der Boote wurden zerstört, Benzin gestohlen und die Fliehenden in Seenot zurückgelassen. In den vergangenen zwei Wochen wurden nachweislich zwei Personen an der Landesgrenze getötet. Ein Kind ist in der Ägäis ertrunken.
Die griechische Regierung empfindet es heute auch legitim, neu ankommende Schutzsuchende nunmehr zu kriminalisieren und droht ihnen mit Haftstrafen von bis zu vier Jahren und Geldstrafen bis zu 10.000 Euro für den bloßen irregulären Grenzübertritt. Gleichzeitig wurde entschieden, dass Menschen in die Türkei zurückgeschickt oder in Herkunftsländer abgeschoben werden können, ohne ein Asylverfahren zuzulassen. Die EU schweigt zu diesen enormen Verletzungen der Grund- und Menschenrechte und bietet der Türkei und Griechenland stattdessen finanzielle Unterstützung an.
Die Ende 2019 neu eingeführten Einwanderungsgesetze hatten bereits zu zahlreichen praktischen Hindernissen bei der Wahrnehmung der Rechte von Schutzsuchenden in Griechenland geführt. Eine steigende Zahl von Asylanträgen wurde willkürlich beendet und auch die Zahlen der Ablehnungsbescheide nimmt unaufhörlich zu. Für Asylbewerber*innen gibt es keine Sozialversicherungsnummer (AMKA) mehr, statt dessen neue Hindernisse bei der Beantragung einer Steuernummer (AFM), keine direkte Arbeitserlaubnis (erst sechs Monate nach der Registrierung), große technische Schwierigkeiten beim Zugang zum Asylverfahren (per Skype), lange Wartezeiten, um Sozialleistungen zu erhalten (Menschen warten mehrere Monate auf ihre ‘Cash-card’), eine Verlängerung der Wartezeit auf Einbürgerung für international Schutzberechtigte (von fünf auf sieben Jahre) und so weiter.
Mitte März 2020 bringt die Bedrohung der durch das Virus Covid-19 ausgelösten Pandemie nicht nur das öffentliche Leben in Griechenland zum Stillstand. Expert*innen warnen vor einem Anstieg der Infektionen im nächsten Monat, welcher die vulnerabelsten Gruppen am heftigsten treffen wird. Griechische Flüchtlingscamps, in welchen hunderte vulnerable Personen in nächster Nähe zusammenleben müssen, ohne dass grundlegende Bedürfnisse erfüllt werden, bergen ein besonders hohes Infektionsrisiko. NGOs rufen zur sofortigen Evakuierung der Camps auf den Inseln auf. Gleichzeitig führen Sicherheitsmaßnahmen für Mitarbeiter*innen zu einer stark eingeschränkten Präsenz der betreibenden Organisationen wie z.B. der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Auch Mitarbeiter*innen der NGOs stellen nur noch ein Minimum an Angeboten zur Verfügung. Die nationale Asylbehörde hat ihren öffentlichen Betrieb vorerst eingestellt.
Auf den Ägäis-Inseln bleiben weiter tausende Geflüchtete in Zelten in und um die “Hotspots” eingesperrt. Viele von ihnen haben nicht einmal gesicherten Zugang zu Lebensmitteln, medizinischer Versorgung oder grundlegenden sanitären Einrichtungen. Alle, die nach dem 1. März 2020 angekommen sind, wurden unter unmenschlichen Bedingungen in Außenarealen der Hafenbehörden und auf einem Militärschiff im Hafen von Lesbos über zwei Wochen festgehalten. Nun wurden die Geflüchteten ans Festland gebracht.
Auf den Inseln suchen Schutzsuchende verzweifelt nach rechtlicher Beratung, um Zugang zu Informationen bezüglich ihrer Rechte und dem rechtlichen Ablauf des Asylverfahrens zu erhalten. Die meisten verbleiben ohne jegliche Hilfe und durchlaufen das Asylverfahren unvorbereitet. Das ohnehin schon geschwächte öffentliche Gesundheitssystem bricht zusammen und sowohl medizinische Hilfe als auch der Zugang zur Versorgung mit Medikamenten existiert faktisch nicht mehr. Währenddessen protestieren von Faschist*innen infiltrierte Gruppen von Inselbewohner*innen seit Wochen gegen die Pläne der Regierung, geschlossene Immigrationsgefängnisse neben den bereits jetzt schon bekannten und überfüllten Hotspots auf Lesvos, Chios, Samos, Kos und Leros zu errichten. Sie haben Geflüchtete, Aktivist*innen und Journalist*innen gleichermaßen attackiert und angegriffen.
Auf dem Festland leben immer mehr Menschen in marginalisierten Lagern, weit entfernt von jeglicher Hilfe und fernab jeglicher Zukunftsperspektiven. Integration unter diesen Umständen ist unmöglich. Die Anzahl der von Obdachlosigkeit betroffenen Personen steigt und mit dem angekündigten Ausschluss der international Schutzberechtigten von staatlich gefördertem Wohnen, werden zum Ende des Monats hunderte weitere auf der Straße landen. Menschen, die über die Landgrenze nach Griechenland gelangen und in die Städte kommen, haben keinen Zugang zum Asylverfahren oder Aufnahmebedingungen. Sie müssen unregistriert in Camps leben und haben monatelang keinen Zugang zu materiellen, sozialen und medizinischen Dienstleistungen, leben in Zelten und überfüllten Gemeinschaftsräumen oder provisorisch in Containern offizieller Bewohner*innen.
Kurz gefasst: Schutzsuchende riskieren ihr Leben um Europäischen Boden zu erreichen und sind nach ihrer Ankunft in Griechenland weiterhin gefährdet.
Seit 2017 verhindert Deutschland aktiv Familienzusammenführungen
Mit der Zunahme der Anträge auf Familienzusammenführung nach der plötzlichen Schließung der “Balkan-Route” und der Implementierung des EU-Türkei-Deals 2016, begannen die Deutschen Behörden eine restriktive Anti-Zusammenführungs-Politik zu verfolgen. Zuerst wurden hunderte bereits akzeptierte Familienzusammenführungen unrechtmäßig verzögert, wodurch Kinder monate- und sogar jahrelang von ihren Familien getrennt blieben. Zum Ende des Jahres 2017 stieg die Anzahl systematischer allgemein formulierter Ablehnungsbescheide zuerst von Deutscher und in der Konsequenz auch von Griechischer Seite, die rein administrative Begründungen verwendeten, um Familien auf unbestimmte Zeit zu trennen. Anstatt das sich die Behörden für die Zusammenführung der geflüchteten Familien einsetzen, liegt die Beweispflicht nun bei den Familien, die belegen sollen weshalb die Zusammenführung zu ihre Wohl sei. Heutzutage ist es eine alltägliche Erfahrungen vieler verzweifelter Kinder, Mütter und Väter, wenn ihnen die griechischen Asylbehörden oder NGOs mitteilen: “Du kannst keinen Antrag auf Familienzusammenführung stellen!” oder “Es ist sehr wahrscheinlich, dass dein Antrag von den Deutschen Behörden abgelehnt wird!”.
In den Jahren 2017 und 2018 gab es einen starken selbstorganisierten Widerstand geflüchteter Familien gegen die verspäteten Transfers nach Deutschland. Heute wird die extrem restriktive Auslegung der Dublin III Verordnung und des deutschen Einwanderungsgesetzes zum Familiennachzug als gegeben und nicht verhandelbar präsentiert – trotz der inhärenten Ungerechtigkeit. Die Stimmen der geflüchteten Familien verhallen ungehört.
Wir möchten diesen Stimmen eine Plattform geben. Wir stellen uns gegen die EU-Politik der geschlossenen Grenzen abzielen, die Kinder extremer Gewalt aussetzen. Wir fordern, dass Familien wieder vereint werden müssen. Grund- und Menschenrechte müssen über dem Einwanderungs- und Asylgesetz stehen. Das Wohlergehen der Kinder muss geschützt und das Kindeswohl aufrechterhalten werden. Behörden aller EU Mitgliedsstaaten müssen aufhören, das Kindeswohl in Gefahr zu bringen und stattdessen die Dublin III Verordnung einhalten, welche explizit besagt:
“Bei der Anwendung dieser Verordnung sollte das Wohl des Kindes im Einklang mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes von 1989 und mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten sein. Bei der Beurteilung des Wohls des Kindes sollten die Mitgliedstaaten insbesondere das Wohlbefinden und die soziale Entwicklung des Minderjährigen, Erwägungen der Sicherheit und der Gefahrenabwehr und den Willen des Minderjährigen unter Berücksichtigung seines Alters und seiner Reife, einschließlich seines Hintergrunds, berücksichtigen. Darüber hinaus sollten für unbegleitete Minderjährige aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit spezielle Verfahrensgarantien festgelegt werden.” (Paragraph 13)
„Um die uneingeschränkte Achtung des Grundsatzes der Einheit der Familie und des Wohl des Kindes zu gewährleisten, sollte ein zwischen einem Antragsteller und seinem Kind, einem seiner Geschwister oder einem Elternteil bestehendes Abhängigkeitsverhältnis, das durch Schwangerschaft oder Mutterschaft, durch den Gesundheitszustand oder hohes Alter des Antragstellers begründet ist, als ein verbindliches Zuständigkeitskriterium herangezogen werden. Handelt es sich bei dem Antragsteller um einen unbegleiteten Minderjährigen, der einen Familienangehörigen oder Verwandten in einem anderen Mitgliedstaat hat, der für ihn sorgen kann, so sollte dieser Umstand ebenfalls als ein verbindliches Zuständigkeitskriterium gelten.” (Paragraph 16)
Stoppt die Trennung von Familien!
Gleiche Rechte für alle Kinder und Familien!
Kontaktdaten zu den Familien, deren Geschichten innerhalb dieser Kampagne erzählt werden, genauso wie Details zu anderen getrennten Familien, können nach Absprache mit und in Zustimmung der betroffenen Familien geteilt werden, mit Ziel ihnen rechtliche Unterstützung zukommen zu lassen und sie mit ihren Liebsten zu vereinen. Kontaktiert uns über facebook: www.facebook.com/w2eu.gr oder schickt eine E-mail an: contact@w2eu.info
EXPERTENMEINUNG
Psychosoziale Auswirkungen von nicht erfolgter Familienzusammenführung
Aus psychologischer Sicht ist es in einer durch die Fluchtumstände getrennten Familie nicht zu vertreten, den betroffenen Kindern die Wiederaufnahme der Beziehung und Bindung zu den Eltern und/oder Geschwistern, oder anderen nächsten Bezugspersonen, welche an Stelle der Eltern getreten sind (Großeltern, Tanten/Onkel) zu verwehren, es sei denn deren Verhalten ist an sich als kindeswohlgefährdend anzusehen.
Das Erleben von Kindern, die gemeinsam mit ihrer Familie eine oft sehr lange dauernde Fluchtgeschichte überstehen, ist geprägt von extremen Formen des Aufeinanderangewiesenseins. Es fehlt der gewohnte soziale Rahmen, der den Kindern ermöglichte, auch außerhalb der Kernfamilie Entwicklungsschritte zu machen. Stattdessen ist die Familie in einer fremden Umgebung auf sich selbst angewiesen. Es werden den Kindern enorme Anpassungsleistungen abverlangt, die sie oft in eine ungesunde Abhängigkeit von ihren Eltern, oder anderen erwachsenen Verwandten, die diese ersetzen, bringen. Auf der anderen Seite leisten die Kinder die Anpassung an die neue Umgebung und Sprache in der Regel schneller als die Erwachsenen, so dass sie aufgrund ihres schnelleren Spracherwerbs oft Übersetzungsleistungen für die Eltern übernehmen müssen. Auch erleben sie ihre erwachsenen Verwandten gegenüber Behörden und PolizistInnen hilflos, gedemütigt und teilweise auch misshandelt. Aus der früheren Kindheit erlebte Sicherheiten gehen so äußerlich wie innerlich verloren.
Wenn nach solchen Erfahrungen die Kinder dann durch die Fluchtumstände von ihren Eltern und/oder Geschwistern, oder anderen nahen Verwandten getrennt werden, verlassen sie den Familienrahmen unter ohnehin belasteten Umständen. Viele Familien haben neben Krieg und Gewalt bereits als Fluchtgründe massive Ausgrenzung erleben müssen. Durch die Flucht und deren traumatisierende Begleitumstände auch in Griechenland geraten die Familien unter zusätzlichen Druck und verlieren teilweise ihre alten Funktionsweisen, sind auf der anderen Seite aber der überlebensnotwendige Bezugsrahmen. Viele Kinder sind plötzlich ohne ihre gewohnte Familienumgebung, müssen sich ohne ihre Hauptbezugspersonen oft ganz alleine an eine weitere fremde Sprache in einer fremden Kultur und Umgebung anpassen. Die Kinder versuchen, sich nun an dem gegebenen Bezugsrahmen zu orientieren, bleiben aber innerlich und durch täglich mehrfache Telefonate mit der getrennten Ursprungsfamilie sehr eng, aber praktisch nicht lebbar, verbunden.
Bei von den Familien getrennten Kindern können unabsehbare Auswirkungen auf die psychische Entwicklung entstehen und insbesondere ihre emotionale Stabilität so stark belastet sein, dass durch die faktische Unmöglichkeit, die Herkunftsfamilie wiederzusehen, eine Kindeswohlgefährdung entsteht. Auch Kinder, die von einzelnen zentralen Bezugspersonen getrennt wurden (Mutter, Vater, Bruder, Schwester etc.) brauchen für ihre weitere Entwicklung den Kontakt zu diesen Personen. Wenn die Familie oder einzelne Familienmitglieder durch behördliche Versäumnisse unerreichbar bleiben, ist es hinreichend wahrscheinlich, dass ein Kind immer tiefer in psycho-somatische Symptomatiken abtaucht und diese quasi zu einer eigenen Welt entwickelt. Diese Kinder versuchen so auf dysfunktionale Weise, in Verbindung mit den getrennten Eltern, Geschwistern oder anderen nahen Verwandten zu bleiben, die diese ersetzen, wissend und spürend, dass es ihnen genauso schlecht geht. 0ft werden depressive und andere Symptome zu einem sich selbst bestätigenden Band, was die zerrissene Familie zusammenhalten soll. Wenn Kinder in der Phase des Bindungsaufbaus (bis 3 Jahre) getrennt werden, ist dies besonders wichtig, da sonst eine Störung der Bindungsmöglichkeiten wahrscheinlich wird.
Durch eine dauerhafte Trennung von der Familie entstehen zunehmende Risiken für die psychische Entwicklung aller betroffenen Kinder und diese gefährden folglich ihr Kindeswohl.
Dipl. Psychologe und Familientherapeut Reimer Dohrn